Wenn ich mit meinem Latein am Ende bin
Wir kennen es alle. Wütende Kinder, die den Eltern auf der Nase herumtanzen und wenig auf das hören, was ihnen ihre Eltern sagen, gab es schon immer. Kinder mit Wutausbrüchen, Kinder, die bockig sind und nicht aufräumen möchten. Denn wer hat schon wirklich Lust, sein Zimmer aufzuräumen?
Als Erzieher in einer Kita habe ich zahlreiche Kinder mit den unterschiedlichsten Verhaltensweisen erleben dürfen.
Der Umgang mit ihnen war manchmal herausfordernd für mich, und häufig hat mich das Verhalten an meine eigenen Grenzen gebracht. Dennoch habe ich oft einen Umgang finden können. Noch häufiger konnte uns Erziehern geholfen werden, denn das Problem mit dem Verhalten hatten meistens nicht die Kinder, sondern wir als Erzieher, die leider vorschnell das Kind bewertet haben. Da das Kind in uns ein bestimmtes Muster getriggert hat, und dadurch ein ungutes Gefühl in uns auslöste.
Seit einigen Jahren erlebe ich genau diese Kinder, die uns mit ihrem Verhalten etwas aufzeigen möchten, uns auf etwas aufmerksam machen, dass etwas nicht stimmt. Ich möchte dich herzlich dazu einladen, eines dieser Kinder etwas genauer zu betrachten:
Geschichte von Lisa
Die Geschichte handelt von Lisa. Lisa ist 4 Jahre alt, und ein tolles Mädchen, sie wirkt sehr lebendig und neugierig. Sie möchte gerne alles ausprobieren. Wenn sie allerdings etwas möchte, was sie nicht darf, fängt sie an zu schreien, sie haut und weint laut. Häufig wirft sie sogar Stühle und zerstört Spielzeug, so groß ist ihre Wut.
So passierte es auch jetzt erneut. Ich war bereits am Schwitzen, da ich mich völlig überfordert gefühlt habe. Ich habe sie gebeten dass sie damit aufhören soll und ihr mitgeteilt, dass ich mit ihr sprechen möchte. Da wurde der Wutausbruch noch stärker. Es hat anschließend lange gedauert, bis Lisa sich endgültig beruhigt hat und ihre Emotionen unter Kontrolle gebracht hat. Ich fühlte mich danach noch erschöpft von Lisas Wutausbruch. Während Lisa sich beruhigt hat und beseelt spielte – Kinder eben.
Spannende Fakten:
Ein erschreckendes Ergebnis: Nach der jüngsten Erhebungswelle der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, auch kurz “KiGGS” genannt, besteht bei etwa 17 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3 bis 17 Jahren ein Risiko für psychische Auffälligkeiten. Jungen sind öfter als Mädchen betroffen, und Kinder aus Familien mit einem niedrig sozioökonomischen Status sind leider häufiger betroffen.
Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass es für jedes auffallende Verhalten immer Ursachen gibt. Ich denke, sehr wichtig für uns ist anzuerkennen, dass nicht hinter jedem ausgeprägten Verhalten sofort eine Verhaltensauffälligkeit oder eine Verhaltensstörung stecken muss. Den Unterschied zwischen einer Verhaltensauffälligkeit und einer Verhaltensstörung macht vor allem die Häufigkeit und die Stärke des Verhaltens aus. Denn jedes Kind hat sein eigenes Entwicklungstempo und seine eigenen persönlichen Ressourcen, auf die es zurückgreifen kann, ebenso wie seine eigene individuelle Persönlichkeit.
Stellt Euch einen ICE oder eine Regionalbahn vor. Manche Kinder brausen wie ein ICE durch das Leben mit 210 und entwickeln sich schneller, während andere Kinder eher mit 80 oder 100, wie eine Regionalbahn, das Leben meistern.
Wichtig für uns zu erkennen ist: Alle Kinder erreichen ihr Ziel, nur mit unterschiedlichem Tempo, unterschiedlichen Ressourcen und Lebenswegen. Geprägt werden die Kinder vor allem durch diese vier Aspekte: Ihre eigenen biologischen Ausgangsbedingungen, ihre gemachten Erfahrungen, die aktuelle Lebenssituation und das eigene Selbst in Form der eigenen Persönlichkeit.
Diese vier Ebenen gelten auch bei Lisa. Lisa bringt ihr Temperament mit, ihr eigenes Feuer, das in ihr brennt. Eine Grundausstattung der aktuellen Situation, z.B. eine allein erziehende und stark überforderte Mutter. Sie erfährt ständig das Gefühl der Ablehnung, somit beginnt sie zu denken, sie sei nicht okay, und genau dieser Gedanke speichert sich bei ihr tief im Unterbewusstsein ab.
Zurück zu Lisa:
Offensichtlich zeigt sich entsprechendes Verhalten, sie schreit Worte wie „Scheiße“ und möchte damit ausdrücken: “Ich bin wütend oder traurig, bitte nehmt mich an wie ich bin. Bitte habt mich lieb. Ich bin hier, ich möchte gesehen und beachtet werden.”
Wir können das mit einer blutenden Wunde vergleichen. Stellt euch eine große blutende Wunde vor. Je heftiger sich das Verhalten zeigt, umso größer ist die Wunde, und umso mehr muss sie versorgt werden und benötigt Unterstützung.
Und ich kann euch sagen, dass hinter jedem Kind, welches so ein Verhalten zeigt, uns auf eine Wunde in sich drin aufmerksam macht. Es zeigt uns deutlich ein ungestilltes Bedürfnis.
Kinder im Alltag zu unterstützen bedeutet Kinder zu sehen, bedeutet mehr als ihr„unmittelbares, am stärksten ins Auge fallendes Verhalten“ zu sehen!
Wenn wir unseren Kindern eine Hilfe sein möchten, ist es unsere Aufgabe, die Emotionen hinter dem Verhalten des Kindes zu sehen! Ich lade dich dazu ein, die Botschaft hinter dem Verhalten eines Kindes zu entschlüsseln.
Jedes Verhalten eines Kindes zeigt eine Botschaft.
Heute spiele ich mit Lisa. Ich bemerke, dass ihr etwas nicht gefällt. Also gehe ich auf Lisa ein, öffne meine Arme und äußere lautstark: “Lisa komm´ zu mir.“ Wenn sie nicht darauf eingeht, sage ich stattdessen zu ihr: “Komm´, lass uns drei Mal richtig laut auf den Boden stampfen und laut sagen “Ich bin jetzt verärgert!”.”
Ihre Wut Ausdruck zu verleihen, hilft ihr inzwischen sehr gut.
Da sie bisher nicht viel allein machen durfte, backe ich heute mit ihr zusammen einen Kuchen. Lisa darf diese Woche auch den Mittagstisch decken. Zwei Mal am Tag achte ich darauf, dass ich mich intensiv und 30 Minuten lang mit ihr beschäftige. Sie erhält wichtige Aufgaben und eine ganz klare Tagesstruktur.
Es zeigt sich ein wunderbares Ergebnis
Die Wutausbrüche sind weniger geworden und die Intensität hat deutlich abgenommen. Wenn es doch mal passiert, biete ich Lisa einen Rückzugsort an. Oder ich wechsle bewusst mit Lisa den Ort, sodass sie sich dort beruhigen kann. Ich bleibe bei ihr und signalisiere ihr, dass ich jederzeit für sie da bin. Das vermittelt ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.
Inzwischen sind 6 weitere Monate vergangen. Wenn ich an Lisa und ihre Entwicklung denke, geht mir das Herz auf. Lisa hat sich großartig entwickelt. Sie kann sich mittlerweile sehr gut alleine beschäftigen und auch mit anderen Kindern spielen, ganz ohne auszuflippen. Sie kann ihre Wut anders ausdrücken. Zudem konnte Lisa jetzt auch Freundschaften schließen und bringt fast jeden Tag Freunde mit nach Hause. Lisa hat gelernt, dass sie liebenswert ist, und sie und ihre Gefühle Raum haben dürfen.
Zur Person: Marco Lehmann, Familienvater, staatlich geprüfter Kinderpfleger, staatlich anerkannter Erzieher, Sozialarbeiter/Sozialpädagoge B.A. Mit fast 10 jähriger Erfahrung in der Arbeit mit Kindern bis zum sechsten Lebensjahr.