Immer auf Empfang: Hochsensibilität bei Kindern 

Immer auf Empfang: Hochsensibilität bei Kindern 

Kind hochsensibel

Fluch und Segen zugleich – das beschreibt wohl am besten den Zustand, mit dem sich Erik tagtäglich auseinander gesetzt sieht. Erik ist sechs Jahre alt und eigentlich ein ganz „normaler“ Junge – zumindest auf den ersten Blick scheint nichts an ihm auffällig zu sein. Er wächst wohlbehütet in einer liebevollen Familie mit seinen drei Geschwistern auf. Beide Eltern sind berufstätig, die Kinder in mehreren Vereinen aktiv. In den Ferien fahren alle gemeinsam in den Urlaub – im Sommer geht es ans Meer, im Winter in die Berge. Mit seinen zwei Brüdern ist Erik manchmal am Raufen. Spielerisch messen sie ihre Kräfte. Mit seiner Schwester hat Erik ein sehr vertrautes Verhältnis. Sie hört ihm zu bei seinen Sorgen und Ängsten und sie gibt ihm Mut, wenn er vor einer Herausforderung steht.   

Und diese Herausforderungen scheinen mit zunehmendem Alter bei Erik zu wachsen. Er bemerkt, dass er immer auf Empfang ist. Seine Gedanken kreisen wie in einem Karussell – tagaus, tagein – es fällt ihm schwer, abzuschalten, sich zu entspannen, er spielt immer öfter lieber allein. 

Unsichtbare Antennen

„Das Konzept der Hochsensibilität hat in den 1990er-Jahren durch die Psychologin Elaine Aron Popularität erlangt. Sie führte umfangreiche Forschungen durch und stellte fest, dass es Menschen gibt, die ihre Umwelt viel intensiver wahrnehmen als die meisten anderen. Diese Personen – Erwachsene wie Kinder – reagieren stärker auf sensorische Reize wie Geräusche, Licht, Gerüche und emotionale Stimmungen. Aron definierte Hochsensibilität als ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal“ (Vita 2025: 9). 

Das heißt, dass hochsensible Kinder von Geburt an ein besonders empfindsames Nervensystem besitzen. Die ausgeprägte Sensibilität führt dazu, dass sie Sinneseindrücke intensiver wahrnehmen und verarbeiten als andere. Als hätte Erik Antennen auf seinem Kopf nimmt er also jedes Geräusch, jede Bewegung, Licht und Gerüche sehr verstärkt wahr. Das kann für ihn zu einer großen Anstrengung werden. Auf der anderen Seite fühlt er stärker Emotionen, kann sich in seine Geschwister und Freunde sehr gut hineinversetzen. Er ist sehr empathisch. 

Etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung gelten als hochsensibel. Hochsensible Personen nehmen Gefahren und andere wichtige Informationen aus der Umwelt schneller bzw. niederschwelliger wahr, reagieren entsprechend schneller darauf und sind vorsichtiger. Dies war im Laufe der Evolution ein Vorteil für die gesamte Gruppe, denn wenn knapp 15 Prozent der Gruppenmitglieder bereits früh auf Gefahren reagieren, alarmieren diese die restlichen 85 Prozent der Gruppe. Somit ziehen alle einen Nutzen daraus (reviewed in Aaron et al. 2012).

Hochsensibel wie ein Elefant 

Es gibt typische Merkmale, die hochsensible Kinder ausmachen. Dabei sind sie vor allem lichtempfindlich, registrieren kleinste visuelle Impulse, meiden Lärm, empfinden Hintergrundgeräusche als störend, haben einen feinen Geruchssinn und sind durch unangenehme Düfte stark beeinträchtigt. Außerdem lehnen sie kratzige oder enge Kleidung ab und sind schmerz-, wärme- und kälteempfindlich. 

Auf der anderen Seite ist ihnen eine besondere Fantasie gegeben und sie sind sprachgewandt. Sie träumen intensiv, sind sehr einfühlsam und können Gefühle schon sehr früh differenziert benennen. 

In der Tierwelt wäre Erik ein Elefant, denn die Dickhäuter gelten als hochsensibel und registrieren alles. Trotz ihrer Größe und Stärke sind sie unglaublich feinfühlige Lebewesen. In einem Porzellanladen würden sie nichts umwerfen. Selbst Winzigkeiten auf dem Boden werden von ihnen wahrgenommen. Anstatt draufzutreten, gehen sie lieber drumherum oder untersuchen sie mit ihrem Rüssel. 

Entgegen der Bezeichnung Dickhäuter sind Elefanten äußerst empfindsame, gefühlvolle Lebewesen, die zu starken Gefühlen wie Trauer, Angst, Stress, Rache, aber auch Freude fähig sind, je nachdem, ob sie positive oder negative Erfahrungen machen. Beispielsweise trauern diese feinsinnigen Tiere viele Monate, wenn Artgenossen sterben. Sie reagieren also sehr sensibel auf Veränderungen in ihrem sozialen Umfeld, insbesondere auf Gewalt bzw. Verlust. 

Und auch in körperlicher Hinsicht sind Elefanten an bestimmten Stellen sehr dünnhäutig. An den Ohren, um die Augen, am Bauch, an der Brust und den Achseln sowie am Rüsselansatz ist ihre Haut so dünn wie Papier. (https://ruessel-hoch.de/2022/06/04/elefantoeses-wie-sensibel-sind-elefanten/)

Wenn Erik wüsste welche Ähnlichkeiten er zu einem starken Elefanten besitzt, würden ihm manche Situationen wahrscheinlich leichter fallen.

Isabella Kiening hat die Merkmale hochsensibler Kinder in einer Grafik veranschaulicht:

Quelle: https://www.infomedizin.de/news/bericht/732-hochsensibilitaet/

Ein Blick in die Neurobiologie

Dass der amerikanische Psychologe Jerome Kagan bei hochsensiblen Kindern – er nennt sie „gehemmte Kinder“ – eine erhöhte Menge Botenstoffe nachweisen konnte, zeigt, warum bei ihnen eine größere Menge an Informationen im Gehirn ankommt und sie ihre Umwelt besonders detailreich verarbeiten. Die tiefe neuronale Verarbeitung scheint eine zentrale Funktion von Hochsensibilität zu sein. Diese spiegelt sich in einer verstärkten Gehirnvernetzung im Ruhezustand wider, welche assoziiert ist mit:

(1) Aufmerksamkeitskontrolle

(2) Konsolidierung des Gedächtnisses

(3) physiologische Homöostase und 

(4) deliberative Kognition (Acevedo et al 2021). 

1. Aufmerksamkeitskontrolle, auch als selektive Aufmerksamkeit oder Konzentration bekannt, beschreibt die Fähigkeit, die eigene Aufmerksamkeit willentlich auf bestimmte Reize oder Aufgaben zu richten und andere zu ignorieren. 

2. Die Gedächtniskonsolidierung ist der Prozess, bei dem neu erworbene Informationen vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis überführt und dauerhaft gespeichert werden. Dieser Prozess ist entscheidend für das Lernen und Erinnern, da er sicherstellt, dass neu erlerntes Wissen und Erfahrungen langfristig verfügbar sind. 

3. Die physiologische Homöostase bezeichnet die Aufrechterhaltung eines dynamischen Gleichgewichts der inneren Körperbedingungen trotz äußerer Einflüsse. Dies umfasst die Regulation von Parametern wie Körpertemperatur, Blutdruck, Blutzuckerspiegel und Säure-Basen-Haushalt, um eine optimale Funktion des Organismus zu gewährleisten. 

4. Deliberative Kognition bezieht sich auf einen Denkprozess, der durch sorgfältige Abwägung und Überlegung gekennzeichnet ist. Es ist ein langsamer, kontrollierter Prozess, bei dem Informationen systematisch bewertet und Entscheidungen auf der Grundlage von Logik und Argumentation getroffen werden. 

Es besteht demnach die Theorie, dass bei hochsensiblen Personen (HSP) entsprechend mehr Reize durch den Thalamus weitergeleitet werden. Dazu gehören auch Reize, die potenziell Angst auslösen können. Dadurch sind HSP außerdem stressanfälliger, da ihr Stresssystem wie beschrieben häufiger alarmiert wird (Benham 2006).

Für den sechsjährigen Erik ist die detailreiche Verarbeitung der Umwelt häufig mit sehr viel Anstrengung verbunden. Je älter er wird, desto mehr scheint er zu bemerken, dass er zwischendurch auch immer mal wieder etwas Abstand zu seinen raufenden Spielfreunden benötigt und sich zurückziehen möchte. Dann sucht er sich gerne eine ruhige Aktivität wie Malen oder Lesen. 

Die Familie der Elefanten

Genau wie Elefanten liebt es Erik, wenn Ruhe ausgestrahlt wird. Dann findet er selbst auch schnell seine innere Ruhe wieder und ist ausgeglichen. In turbulenten Momenten ist er gern mit seiner Schwester oder mit den Mädchen seiner Kitagruppe zusammen. Sie strahlen für ihn die benötigte Ruhe aus und es fällt ihm leichter, wieder Struktur zu finden. 

Struktur und Halt findet Erik auch in seiner Familie. Es gibt feste Rituale, die ihm täglich dabei helfen, sein Stresslevel in Balance zu halten. Ein fester Ablauf für ihn und seine Geschwister ist ihm wichtig. So erlangt er die nötige Sicherheit. Erik hat wie die grauen Riesen einen ausgeprägten Familiensinn, denn auch bei Elefanten kann beobachtet werden, „wie sie sich mitfühlend gegenseitig trösten, wie rücksichtsvoll sie sich umeinander kümmern, beispielsweise kranke und verletzte Herdenmitglieder mit Futter versorgen, und wie einfühlsam sie miteinander umgehen, insbesondere auch bei einer Elefantengeburt.“ (https://ruessel-hoch.de/2022/06/04/elefantoeses-wie-sensibel-sind-elefanten/)

Und so ist die Hochsensibilität für Erik Herausforderung und Bereicherung zugleich. Während er mit seiner Umgebung, den Geräuschen, Gerüchen und Einflüssen zu kämpfen hat, stellt er kleinste Veränderungen an seinen Mitmenschen fest und kann ihre Gefühle schnell einordnen.

Im Kindergarten eine sichere Umgebung schaffen

Nicht nur zuhause fühlt Erik sich wohl, er geht auch gern in den Kindergarten. Er liebt es, neue Dinge zu lernen, er mag die Routine, den strukturierten Tagesablauf und er hilft gern den anderen Kindern. Im lauten und schnellen Kindergartenalltag kann seine Hochsensibilität jedoch zu besonderen Herausforderungen führen, sowohl für ihn selbst als auch für die betreuenden Fachkräfte.

Zu den sechs häufigsten Anforderungen im Kindergarten zählen:

1. Reizüberflutung

  • Ursache: Viele Menschen, laute Geräusche, grelles Licht, ständiger Wechsel von Aktivitäten
  • Folge: Das Kind zieht sich zurück, weint schnell, wirkt überfordert oder zeigt scheinbar „unangemessenes“ Verhalten wie Wutanfälle

2. Soziale Überforderung

  • Ursache: Hochsensible Kinder spüren Emotionen anderer oft sehr stark
  • Folge: Sie können sich von Konflikten, Streit oder Gruppenaktivitäten emotional überwältigt fühlen. Sie vermeiden Gruppen oder klammern sich an einzelne Bezugspersonen

3. Hoher Rückzugsbedarf

  • Ursache: Ihr Nervensystem braucht mehr Zeit zur Verarbeitung
  • Folge: Sie brauchen mehr Ruhephasen oder Rückzugsorte, die im Kindergarten nicht immer verfügbar sind

4. Detailverliebtheit und Perfektionismus

  • Ursache: Sie beobachten sehr genau und wollen Dinge „richtig“ machen
  • Folge: Sie sind frustriert, wenn etwas nicht perfekt gelingt oder sie Kritik erhalten – selbst wenn diese konstruktiv gemeint ist

5. Schwieriger Umgang mit Veränderungen

  • Ursache: Neue Situationen oder Übergänge (z. B. Ankommen, Raumwechsel, neue Erzieherinnen) verunsichern sie
  • Folge: Sie reagieren ängstlich, klammern oder verweigern die Mitarbeit

6. Missverständnisse mit dem Betreuungspersonal

  • Ursache: Ihre Reaktionen wirken oft übertrieben oder unverständlich.
  • Folge: Sie werden fälschlicherweise als „schwierig“, „verhaltensauffällig“ oder „schüchtern“ eingestuft.

Die Erzieher und Erzieherinnen sind in der Arbeit mit hochsensiblen Kindern somit regelmäßig besonderen Momenten ausgesetzt. Es fordert viel Kompetenz, Einfühlungsvermögen, Geduld und Verständnis, den Kindern bewusst ihren Raum zu geben und ihre Bedürfnisse zu erkennen. Dabei gibt es Angebote, die den Kindern helfen, sich besser im Kindergartenalltag zurecht zu finden:

  • Feste Rituale & Struktur: Sicherheit durch Verlässlichkeit und Routinen
  • Rückzugsorte schaffen: z. B. ein Kuschelzelt, Leseecke oder stille Ecke
  • Reizreduktion: Begrenzung von Lautstärke, grellem Licht, hektischen Übergängen
  • Verständnisvolle Bezugspersonen: Feinfühligkeit und Geduld sind entscheidend
  • Kleine Gruppenaktivitäten: Statt großer Runden lieber Angebote in kleinen Gruppen
  • Emotionale Begleitung: Gefühle benennen, annehmen und gemeinsam regulieren lernen
  • Zeit für kreative Entfaltung: z. B. ein ruhiger Maltisch oder eine stille Bauecke

Leichter fällt es den Erziehern, wenn auch die Eltern dabei mit ihnen an einem Strang ziehen. Sobald die Hochsensibilität bei einem Kind entdeckt wird, sollten Erzieher und Eltern gemeinsam darüber ins Gespräch gehen. Eine offene Kommunikation kann helfen, von Anfang an, Verständnis zu schaffen, Alltagsherausforderungen gezielt anzugehen und so eine sichere Umgebung für das Kind zu schaffen, in der es sich entfalten kann. 

Einen Freiraum statt Bewertung zu geben, kann helfen, dass sich Kinder wie Erik in ihrem Tempo frei entfalten können. Elefanten-Kinder wie er brauchen schließlich nicht mehr als andere – sie brauchen etwas anderes: Verständnis, Schutzräume, Zeit und echte Beziehung. Dann können sie zu einem starken, selbstbewussten Elefanten heranwachsen.

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