Sind Jungen Bildungsverlierer?
Welche Wirkung haben männliche Vorbilder auf die Entwicklung von Jungen?
Michel ist sechs Jahre alt und sitzt in der Bauecke der Gruppe „Kunterbunt“. Felix, der neue Praktikant, gesellt sich zu ihm. Auf die Frage hin, ob er mit ihm gemeinsam bauen darf, holt Michel weitere Kisten mit Bauklötzen. Holger, Michels Freund, stößt ebenso dazu und sie spielen zu dritt, bis sie zum Frühstück gehen. Anschließend möchten die Jungs mit Felix gerne Fußball spielen. Als Felix Michel in der Garderobe beim Anziehen hilft, bringt Michel seine Freude zum Ausdruck und sagt: Fußballspielen hat vorher niemand mit uns gemacht.“
In der Gesellschaft gibt es immer wieder den Aufschrei, dass vor allem den Jungen in den ersten zwölf Jahren ihres Lebens die männlichen Vorbilder fehlen. Männer kann man in Kindergärten, Kinderkrippen und im gesamten Elementarbereich mit der Lupe suchen. Wen wundert also, dass Michel und Holger ihren neuen Praktikanten so sehr beanspruchen und sich über einen neuen männlichen Spielgefährten freuen? Jungen erlangen die schlechteren Schulabschlüsse, sie schreiben die schlechteren Schulnoten und brechen häufiger die Schule ab als Mädchen. Sie werden als „Bildungsverlierer“ bezeichnet.
Wenn es stimmt, dass Jungen die Bildungsverlierer sind, was bedeutet es dann für sie selbst und ihre Biografie? Welche Folgen hat das für die Gesellschaft und für das Bildungssystem? Welche Antworten können hier von Politik und Fachkräften gefunden werden?
Wie wichtig männliche Fachkräfte für die Entwicklung von Jungen sind, ist immer wieder ein Thema in der öffentlichen Diskussion. Aber es ist auch im Gespräch in Familien, unter Vätern und allen anderen männlichen Vorbildern. Es ist ein Thema der Institutionen und Fachkräfte des Bildungssystems. Vor allem ist es aber besonders präsent für die Jungen selbst.
Ich erlebte die Arbeit als männlicher Erzieher in einer Kindertagesstätte und erlebte die Probleme im Umgang mit Jungen. Darüber hinaus entstanden zahlreiche Schwierigkeiten, die mich, in einem von Frauen dominierten Arbeitsplatz, persönlich berührten. An dieser Stelle sollten Sie sich fragen, welche Zahlen, Daten und Fakten belegen, dass Jungen Bildungsverlierer sind?
Zahlen, Daten, Fakten: Jungen schneiden in der Schule schlechter ab als Mädchen!
Zahlreiche Studien zeigen auf, dass Jungen Bildungsverlierer sind; so zum Beispiel eine Studie des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK). Laut dieser Studie schneiden Jungen im Schulsystem schlechter ab. Dieses bestätigen zusätzlich auch Zahlen des statistischen Bundesamtes. Diese zeigen auf, dass im Schuljahr 2018 insgesamt 8,9 % der Jungen ohne Hauptschulabschluss die Schule verließen. Bei den Mädchen sind es nur 6 %. Weitere Zahlen belegen den Umstand, dass 42,1 % der männlichen Jugendlichen die Schule mit der Fachhochschulreife oder Hochschulreife verlassen. Bei den Mädchen sind es 48,3 %. Andererseits stellt eine Studie der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) eine gegenteilige Position dar. So weist der Wissenschaftler Thomas Viola Rieske darauf hin, dass Jungen keine Bildungsverlierer seien und diese auch nicht durch das Bildungssystem diskriminiert werden. Er beschreibt, dass mögliche Ungerechtigkeiten durch gesellschaftliche Rollenbilder entstehen und die damit verbundenen Erwartungen an diese Rollenbilder überdacht werden müssen. Häufig sind in unserer Gesellschaft noch alte Denkweisen gefestigt, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. So wird noch immer von uns typisch männliches oder typisch weibliches Verhalten erwartet. Hat zum Beispiel der Junge eine männliche Bezugsperson als Vorbild – einen immer Fußball guckenden, Bier trinkenden und wenig Emotionen zeigenden Mann, der im schlechtesten Fall negativ mit der Frau umgeht und klar dominierende Strukturen vorlebt – so erfährt dieser Junge eine Art Identifikation mit einer Rolle des Mannes, die in unserer Gesellschaft keinen Platz mehr haben sollte, beschreibt der Wissenschaftler Rieske.
Ich bin der Meinung, dass die Rechte von Frau und Mann vollständig gleichberechtigt sein sollten, sodass sich diese Gleichberechtigung im Umgang mit Frauen widerspiegeln sollte, aber auch in allen anderen Bereichen der Gesellschaft. Trotzdem ist es eine Möglichkeit des „Mannseins“ und ist somit eine Verhaltensantwort aus dem direkten Umfeld eines Jungen. Darüber hinaus bin ich der Auffassung, dass gerade das Vorleben des Vaters eine entscheidende Rolle spielt, um eine eigene Identifikation des Mannwerdens heraus zu bilden. Bereits Albert Bandura konnte mit seinen Studien zum Lernen am Modell bestätigen, dass primär das Lernen durch Beobachtung und Nachahmung stattfindet. Jungen lernen von „männlichen Vorbildern“ auf dem Weg ihrer Persönlichkeitsentwicklung und zur Bildung ihres Geschlechts. Sie benötigen frühe Bindungserfahrungen und Väter, die sie annehmen, wie sie sind. Väter die emotional anwesend sind und ihre Gefühle gegenüber den Jungs zeigen können. So können auch Jungs lernen, dass es etwas ganz Normales ist Gefühle zum Ausdruck zu bringen.
Studie zeigt auf: Zu wenig männliche Erzieher in Kindergärten
Männer fehlen in den Schulen, im gesamten Kindergartenbereich und häufig sogar in den Familien. Demzufolge startete die damalige Bundesfamilienministerin Christina Schröder das Projektmodell “MEHR Männer in Kitas” des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend. Ziel war es, den Anteil männlicher Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen deutlich zu steigern. Laut einer Studie aus dem Jahr 2008 des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend arbeiten nämlich lediglich 2,4 % Männer im Elementarbereich. Diese Zahl konnte 2014 laut der Koordinationsstelle ‚Männer in Kitas‘ auf 4,4 % erhöht werden. Laut einer erneuten Erhebung des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend in 2018 arbeiten inzwischen 5,3 % der männlichen Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen. Primär sollten den Kindern moderne Rollenvorbilder aufgezeigt werden und Männer nachhaltig im Kontext Kita eingebunden werden.
Aber warum gibt es noch immer so wenig männliche Fachkräfte im Elementarbereich? Oder auch in der Grundschule? Ist es auf der einen Seite die zu geringe gesellschaftliche Anerkennung? Oder ist es das im Bundesdurchschnitt zu niedrige Gehalt? Sind es die Arbeitsbedingungen, die Männer abschrecken, diesen Beruf ausüben zu wollen? Oder spiegelt die Unterpräsenz von Vätern in der Erziehung den Missstand auch in den Bildungsinstitutionen wieder? Oder die bei Männern, noch häufig bestehende Denkweise, dass Erziehung reine Frauensache ist?
Hierzu schreibt der australische Familientherapeut Steve Biddulph in seinem Buch: „Jungen! Wie sie glücklich heranwachsen“: „Lernen am Modell ist für Jungen ganz wichtig, weil gerade Jungen, ohne mitbestimmen zu können, in eine gesellschaftskonforme Rolle gedrückt werden, wie ein Junge zu sein hat“.
Da an Jungen besondere Erwartungen gestellt werden, versuchen sie, diesen Erwartungen gerecht zu werden. Sie übernehmen Vorstellungen, worauf es im Leben ankommt und was ihnen wichtig ist. Die Bezugspersonen haben hingegen ein klares Rollenverständnis und erwarten das in der Regel auch von ihrem Kind. Bei der Identifizierung mit seiner Rolle als Junge und später als werdender Mann hat der Junge oft nur eine männliche Bezugsperson in seinem näheren Umfeld. Ein Junge benötigt für den Entwicklungsprozess vom Jungen zum Teenager und dann zum Mann auch Männer und deren verschiedenen Verhaltensantworten, die sich um ihre Jungen kümmern. Nur so kann ein Junge für seine eigene Identität auch eigene Antworten finden.
Weder Umwelt noch Genetik machen den Unterschied
Die Gehirnforschung wie zum Beispiel Gerald Hüther seines Zeichens Gehirnforscher und Autor vieler Bücher zum Thema Funktion des Gehirns bei Männern und Frauen hat hierfür ihre eigenen Antworten. In einem seiner Bücher beschreibt Hüther: „Jungen kommen bereits mit einem etwas anders organisierten und strukturierten Gehirn zur Welt, deshalb verhalten sie sich anders, lenken ihre Aufmerksamkeit anders und reagieren anders“ (Hüther, 2009, S. 66). Oder: Nicht die Umwelt und auch nicht die Genetik macht den Unterschied zwischen Mann und Frau aus. Das Testosteron hat Einfluss auf das Gehirn und die Gehirnentwicklung und den Körper insgesamt (vgl. Hüther, 2009, S. 58). Demzufolge haben Jungen schon, wenn Sie auf die Welt kommen, ein anderes Gehirn und bereits in jungen Jahren einen Testosteronspiegel, der Jungen von Mädchen unterscheidet. So soll das Testosteron zum Beispiel den Wettbewerbsgeist fördern oder den Bewegungsdrang der Jungen anregen. Die Erkenntnisse zeigen für Hüther ganz klar, dass unser Bildungssystem für Jungen gar nicht ausgelegt ist. In unseren Schulen wird auf den Bewegungsdrang von Jungen gar nicht eingegangen. Stillsitzen und stundenlanges Zuhören können Jungen nicht leisten und so wundert es keinen, dass sie negativ auffallen und dem Unterricht nicht folgen können. Demzufolge fehlen nicht nur männliche Vorbilder, an denen Jungen lernen können, sondern auch das Wissen um die Besonderheiten der Wirkungsweise von Testosteron auf Jungen. Und es fehlt das Wissen um die Unterschiedlichkeit in dem Aufbau, der Funktion und der Entwicklung des Gehirns von Jungen und Mädchen. Diese Unterschiede machen für die Gehirnforschung auch die Verschiedenheit im Verhalten, insbesondere von Jungen aus.
Nach meiner Beurteilung sind Jungen keine Bildungsverlierer, sondern ein Geschlecht das auf der Suche nach Halt und Orientierung ist. Um dieser Suche nach zu kommen brauchen wir mehr Männer in Kindergärten und Schulen. Zudem brauchen wir pädagogische Konzepte, mit denen wir beide Geschlechter optimal fördern können. Vielleicht könnte man eine Quotenregelung einführen, um Männer einen optimalen Einstieg in Grundschulen und Kindertagesstätten zu ermöglichen. Erst dann können alte Denkmuster aufgebrochen werden und das Bild des „Mannseins“ nachhaltig in der Gesellschaft und auch zunehmend in der Familie verändern. Erste kleine Initiativen, wie bereits beschrieben, stellen einen Anfang dar. Um einen flächendeckenden Anstieg von männlichen Fachkräften zu bewirken, braucht es jedoch noch viele weitere Projektmodelle, wie: „Mehr Männer in Kitas“. Ein anderer Punkt bleibt die Reformierung und Umstrukturierung des Bildungssystems, sodass mehr auf die Bedürfnisse, Besonderheiten und Eigenheiten von Geschlechtern eingegangen wird. Die Arbeit mit Jungen, in der Jungen auch “Jungenuntypische Tätigkeiten” durchführen dürfen, sollen genauso zur Normalität gehören, wie Ringen, Raufen und Kräftemessen.
Abschließend ist festzustellen, dass die Ergebnisse der Studien zur Frage, ob Jungen Bildungsverlierer sind, heterogen sind. Für mich zeigen die Zahlen, Daten und Fakten auf, dass in den sozialen Einrichtungen männliche Bezugspersonen fehlen. Somit fehlen Jungen Vorbilder, von denen Sie lernen und an denen sie sich orientieren können. Des Weiteren muss es männliche Fachkräfte geben und pädagogische Konzepte mit einem Schwerpunkt in der Arbeit für Mädchen und Jungen. Dies beweist meiner Meinung nach, dass Jungen keine Bildungsverlierer sind. Jedoch fehlen häufig Wissen und Haltung der Fachkräfte, um auf die Bedürfnisse konkret einzugehen. Hier empfinde ich die Position der GEW, auch aus eigenen Erfahrungen, als nennenswert.
Auch ich erlebe, dass in der Gesellschaft häufig noch alte Denkweisen verankert sind und Verhaltensweisen über Generationen übertragen werden. Aus diesem Grund fehlen Jungen häufig Ideen, um in dem bestehenden Schulsystem erfolgreich sein zu können. In der Arbeit als Erzieher ist die Haltung, jedes Kind individuell zu betrachten, eine wichtige und ernst genommene Aufgabe. Als männliche Fachkraft habe ich daher durch meine eigenen Interessen Wahlmöglichkeiten für Jungen und Mädchen angeboten. Auch als Mann wickelte ich die Kinder, bereitete das Essen zu oder reinigte die Fenster in der Gruppe. Für die Kinder ist das Normalität. Diese Normalität wünsche ich mir flächendeckend in allen sozialen Einrichtungen, in denen Jungen begleitet und betreut werden. Verschiedene männliche Vorbilder, wie der Praktikant Felix, sollte es in jeder Kindertagesstätte geben. Denn erst dann wird es zunehmend zu einer gesamtgesellschaftlichen Normalität werden.
Wissenswertes zum Autor:
Marco Lehmann ist ausgebildeter Kinderpfleger, staatlich anerkannter Erzieher, Fachwirt für den Erziehungsdienst und Sozialarbeiter/Sozialpädagoge B.A. Er arbeitete als männliche Fachkraft im Elementarbereich und ist tätig als Fachberatung für Kindertageseinrichtungen und Fortbildner in der Erwachsenenbildung. Schwerpunkte seiner Arbeit liegen im Bereich des gehirngerechten Lernens, der Konzeptionserstellung, sowie Teamentwicklung für Kindertageseinrichtungen.
Literatur:
Hüther, Gerald (2009): Männer. Das schwache Geschlecht und sein Gehirn. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Biddulph, Steve (2000): Jungen! Wie sie glücklich heranwachsen. München: Beust Verlag.
Quellen:
http://www.lizzynet.de/30731812.php
http://www.neue-wege-fuer-jungs.de/Aktuelles/DIHK-Berit-Heinz
http://mika.koordination-maennerinkitas.de/forschung/unsere-studie/